À plein Temps 4000

Standfoto aus "À plein temps" - Ständig unter Druck,- Julie (Laure Calamy) hat täglich ein Riesenpensum zu bewältigen, um sich und ihre beiden Kinder durchzubringen

 

Regie: Eric Gravel, Kamera: Victor Seguin

Frankreich, 2021

Dauer: 85 Minuten

 

Auf dem Filmfest München 2022, Reihe International Independents

Nein, es ist kein Thriller, in welchem Actionheld*Innen im Wettlauf mit der Zeit Großexplosionen und Weltuntergänge verhindern müssen, fühlt sich aber genauso an. Im Alltag einer allein erziehenden Mutter gibt es manchmal Tage, an denen sie übermenschliches leisten muss. Unter den Anfangstiteln, ruhiges Atmen es herrscht Stille, dann der Weckruf eines Handys, sieht man ganz groß Details eines Gesichtes, Augen, die aus einem Schlaf erwachen. Nachttischlampe an, ein ganz normaler Tag für Julie beginnt. Liebevoll weckt sie ihre beiden Kinder, macht ihnen Frühstück, der Fernsehton berichtet von Verkehrschaos wegen Streiks. Foodprep Box zuklappen und bei Dunkelheit raus mit ihren beiden Kindern. Sie liefert die Kinder bei einer Nachbarin ab, entschuldigt sich, dass es so früh ist. Dann ein Sprint und sie kann den Vorstadtzug gerade noch durch die sich schließenden Türen erwischen.

Von da an wird es hektisch in Julies Tag. Auch im Soundtrack (Irène Drésel), der nicht nur  Julie, sondern auch die Zuschauer unter Strom setzt. Der Zug muss vorher halten, Ersatzbusse überbrücken bis zum nächsten Zuganschluss, eingezwängt zwischen Hunderte andere Pendler hetzt sie zu ihrer Arbeitsstelle, unterwegs noch ein Anruf von der Bank, es gibt Probleme mit einem Darlehen. Der Ex-Mann ist unerreichbar.

Sie arbeitet als Zimmermädchen in einem Hotel, die Hotelchefin extrem fordernd. Stress pur, Betten machen im Akkord. Sie soll die Chance bekommen, sich für einen anderen, besseren Job zu bewerben, das wäre ein Lichtblick in ihrem unfassbar stressigen Leben. Doch genau da streiken die Verkehrsbetriebe. In Frankreich ein gar nicht so seltenes Problem. Das nackte Chaos und Julie mittendrin, von allen Seiten unter Druck.

Nie eine Szene, die überflüssig oder die zu lang wäre. Im absoluten Zentrum des Films steht die Hauptdarstellerin Laure Calamy, sie ist es vor allem, die einen durch den Film hindurch trägt. Ihre Darstellung ist sehr vielschichtig, nie ist eine Situation in der sie steckt eindeutig emotional belegt. Im Tragischen liegt auch das Heitere. Manchmal wird die, mehrheitlich die Hektik unterstreichende Tonspur ruhiger, wir sehen nur Julies Gesicht und winzige Momente erzählen alles von der massiven Belastung der jungen Frau. Sie steht ständig unter Strom, schafft es, nahezu jede Misslichkeit aufzufangen, absolut beeindruckend, wieviel Energie diese Frau bewahrt, wo man eigentlich jeden Moment den Zusammenbruch erwarten würde.

85 Minuten lang hält einen der Film in einem Spannungszustand, ganz ohne Zeitzünder, Superbösewichte oder Agenten, einfach nur durch das Beobachten einer Lebensrealität. Ein starkes Sozialdrama, eine Hauptfigur, die immer weiterkämpft und nie zusammenbricht, bei der die soziale Gewalt, die Gewalt der Arbeitswelt und des schlichten Überlebens, aber immer wieder aus dem transparenten, feinsinnigen Gesicht durchschimmert. Ein emotionaler, engagierter Film voller Wahrhaftigkeit, mit einer herausragenden Hauptdarstellerin, der nur wenige Dialoge braucht, um so viel zu erzählen.

 

Gesehen von Mathias Allary

Foto: Filmfest München