Geschmähte Geliebte
Lange Jahre hinweg war im Kino der Begriff Melodram das Synonym für Gefühlskitsch, auch wenn einige der weltweit größten Filmerfolge diesem Genre angehörten. "Der blaue Engel" (R: Josef von Sternberg, 1930), "Gone with the wind" (R: Victor Fleming, 1939) , "Written On The Wind" (R: Douglas Sirk), "Casablanca" (R: Michael Curtiz, 1942) und "All That Heaven Allows" (R: Douglas Sirk, 1954), "Dr. Schiwago" (R: David Lean, 1965) u. v. a. Die Filmkritik und die neuen Vertreter des europäischen Kinos der 50er und 60er Jahren standen dem Melodram häufig kritisch bis abwertend gegenüber.
Erst in den 70er Jahren, als Rainer Werner Fassbinder seine uneingeschränkte Achtung für die Filme Douglas Sirks zum Ausdruck brachte, verlor das Filmmelodram etwas den Beigeschmack des Kitsches. Im Winter 1970/71 hatte Fassbinder, damals 25jährig, Sirk im Tessin getroffen - eine Begegnung die beide zutiefst beeindruckte. Fassbinder arbeitete daraufhin, während der übrige "neue deutsche Film" sich weitgehend in Intellektualität übte, an hoch emotionalen Stoffen nach dem Vorbild Douglas Sirks.
Das Melodrama vor dem Film
So richtig weiß niemand, wann es genau entstanden ist, doch als sicher gilt, dass es bereits lange vor dem Film beim breiten Publikum zu hoher Attraktivität gelangte. Es wird wohl irgendwo in der zweiten Hälfte des 18ten Jahrhunderts gewesen sein, als sich zum klassischen Theater-Drama und der Oper eine zusätzliche beide verknüpfende Gattung gesellte, das Melodrama (es gab diverse Vorstufen zum Melodram, etwa die "Comical Opera", die "Musical Romance" oder die "Burletta"). Im Gegensatz zur Oper, sangen die Charaktere nicht, ihre dargestellten und gesprochenen Handlungen wurden aber zur emotionalen Verstärkung von Musik begleitet.
Mit dem Melodrama wurden Theaterbesuche weniger elitär, sie erschlossen sich dem Kleinbürgertum und erfüllten zugleich deren Sehnsüchte und Bedürfnisse. Den Zuschauern wurden Gefühle pur dargeboten, die durch Intensivierung, wenn nicht Übertreibung besonders einprägsam wurden. Die Guten waren durch und durch gut und die Bösen so schuftig wie irgend möglich.
Vollendung im Film
Zu wahrer Blüte gelangte das Melodram dann im Film. Bereits die frühen Stummfilme griffen auf die Steilvorlage der Theaterkunst zu und behandelten ähnliche Sujets. Dreiecksgeschichten, bei denen ein junges unschuldiges Mädchen durch einen reichen mächtigen oder einfach nur bösen Unhold bedroht wird und welches einen ehrlichen jungen Mann aus einfachen Verhältnissen liebt, wurden zuhauf verfilmt. Das melodramatische Ende sah dann beispielsweise so aus, dass der junge Geliebte den bösen Unhold tötet, damit das Mädchen zwar rettet, aber zugleich ihre Liebe unmöglich wird, weil der Retter ins Gefängnis muss.
David Wark Griffith, dessen "Birth of a Nation" zu den großen amerikanischen Epen gehört, besetzte in diversen Filmen die Schauspielerin Mary Pickford als Prototyp der unschuldigen Kindfrau, die als armes, schutzloses Straßenmädchen oder Klosterschülerin doch stets moralisch unantastbar blieb. Pickford war in diesen Rollen so erfolgreich, dass sie selbst mit über 30 Jahren noch Zwölfjährige spielte. Erst als die Schauspielerin Lillian Gish Anfang der Zwanziger Jahre Karriere macht, steht eine neue Kindfrau bereit, sich den Widrigkeiten der Welt zu stellen. Griffith Schüler, Erich von Stroheim beginnt ebenfalls in den zwanziger Jahren, eigene Melodramen ("Foolish Wives", "Greed") zu verfilmen.
Charakteristika
Hauptziel der Protagonisten war meistens die Erfüllung von Liebe, welche dunkle Mächte, widrige Umstände, Naturgewalten, Ehrbegriffe oder böswillige Gegenspieler zu verhindern suchten. Wichtigstes Beiwerk waren (und sind) riesige, bewegende Gefühle, unerträgliche Schicksale und gute, leidende, zugleich tapfere Menschen. Ihre Liebe hält über alle Grenzen hinweg, selbst über den Tod hinaus. Nie war das Gefühl, die Sehnsucht vereinbar mit den Rollenbildern, den Klassen oder Rassenunterschieden. Generationenkonflikte oder berufliche oder persönliche Erfolge die auf Kosten der Familie, der Liebe oder Freundschaft gehen sind das Salz welches gerne in die Wunden der Hauptfiguren gestreut wird. Ein Happy End würde jedes Melodram zerstören, es muss einfach schmerzlich oder zumindest mit einem bitteren Beigeschmack ausgehen, damit man sich als Zuschauer gut fühlt.
Im Zentrum des Melodrams steht meist die weibliche Protagonistin, aus ihrer Perspektive und Emotionalität heraus erfahren die Zuschauer die traurig-schöne Weltensicht. Die Helden des Melodrams scheitern an ihren Sehnsüchten, die so nicht erlaubt sind in ihrer Weltordnung, weil sie mit Konventionen brechen oder aus ihrer kleinen Welt zu etwas Höherem streben. Aus einem guten Melodram möchte der Zuschauer seufzend aus dem Kino gehen mit der Frage auf den Lippen, warum die Welt nur so ungerecht ist. Auf Wunsch kann man zugleich Trost finden, dass die eigene Lebenssituation so schlecht dann doch nicht ist. Der Altmeister des Melodrams, Douglas Sirk sagte dazu: "Glück ohne Scheitern ist wie ein schlecht geschriebenes Gedicht."
Eingeschränkte Palette
Vielschichtigkeit der Personen ist häufig Gift für das Melodram, klare Typisierung, klare Erkennbarkeit von Gut und Böse sind Grundvoraussetzungen, die es im Melodram zu erfüllen gilt. Die voneinander so fernen Berufsstände treffen zusammen: Die Verkäuferin, die Krankenschwester, die Serviererin stecken vorzugsweise in argen Nöten. Der Arzt, der Architekt, der Maler, der Forscher, der Industrielle oder der Offizier, alle edel, gut, sensibel und moralisch unangreifbar sind zur Stelle um eine der Frauen zu erlösen. Das es nur Männer höheren sozialen Standes sind ist nur allzu logisch, wie wollte auch der Verkäufer, der Krankenpfleger oder der Kellner mit seinem wenigen Geld und der niederen sozialen Position irgendeine Form der Rettung bringen? Und selbst wenn sie es könnten, sie passen einfach nicht in das Erlösungsmuster, welches die in Not geratenen Frauen sich erträumen.
Zerbrechen die Menschen, zerbricht auch die Erde
Der Zuschauer wird Zeuge von Konflikten innerlich zerrissener Menschen mit sich selbst und der Welt. Gern genommen sind Situationen, in denen die Grundbedingungen für die Hauptfiguren durch äußere Umstände bereits besonders erschwert sind. Kriege, Bürgerkriege, Naturkatastrophen, Revolutionen, Verfolgungen oder soziale Unruhen, aus diesem Gewebe lassen sich vortrefflich Melodramen stricken. Ein wenig erinnert das an die Weltsicht der Romantik, an die Übereinstimmung innerer Befindlichkeiten des Menschen als Spiegel der Natur.
Perspektiven
Besonders ungebrochen ist die Geschichte des Melodramas bis heute im indischen und türkischen Film. Familienehre und Blutrache sind dort gängige Widrigkeiten der liebenden Hauptfiguren. Doch auch diverse Fernsehserien, angefangen von "Forsythe Saga" über "Dallas", "Denver" bis "Beverly Hills 90210" arbeiten zuweilen mit den Erzählmustern des Melodrams.
Heutige Kino- und Fernsehspiel- Regisseure haben zumeist keine Berührungsängste mit dem Melodram. Ob Kaurismäki, Tom Tykwer, Lars von Trier oder Almodovar, sie alle haben schon Melodramen verwirklicht. Beispiele: "Titanic" (R: James Cameron, 1997), "Magnolia" (R: Paul Thomas Anderson,1999), "Men of Honor" (R: George Tillman, 2000), "Sprich mit ihr" (R: Pedro Almodovar, 2002), "Breaking the waves" (Lars von Trier, 1996), "Dancer in the Dark", (R: Lars von Trier, 2000) "Der englische Patient" (R: Anthony Minghella, 1996).
Das Genre hat die engen, oft banalen Regeln seiner Anfangszeit längst überschritten und die Grenzen immer weiter ausgedehnt ja überschritten. Inzwischen haben sich so viele Variationen des Melodramas entwickelt, kritische, differenzierte, die Klischees geschickt umgehende, selbst Männerfilme, dass man gespannt sein darf, welche zukünftigen Meisterwerke dieses Genre noch hervorbringen wird.