Mon Ange
"Mon Ange" ist ein modernes Märchen. Colette (Vanessa Paradis) arbeitet als Prostituierte, kennt das Leben und hat doch den Traum von einem besseren Leben nicht aufgegeben. Eines Tages nimmt sie den Anruf einer völlig Fremden entgegen: eine ehemalige Prostituierte kommt am nächsten Tag aus dem Gefängnis und bittet sie, ihren 16jährigen Sohn im Heim abzuholen und zum Bahnhof zu bringen.
Widerwillig macht sie sich auf den Weg und trifft auf einen naiven Jungen, der außer dem Heim nichts kennt und die Welt für sich erst entdecken muss. Doch seine Mutter kommt nicht zum verabredeten Treffpunkt. In einem Krankenhaus finden sie ihre Leiche. In einem Schließfach hatte sie nämlich ihr Erspartes deponiert, um mit ihrem Sohn in die Freiheit zu fliehen. Doch ihr Zuhälter ist auf der Suche nach dem Schlüssel für das Fach, und da sie den Schlüssel nicht hatte, verfolgt er nun den Jungen.
Die beiden können jedoch mit dem Geld fliehen und machen sich auf den Weg- zuerst zu seinen Verwandten, um ihn dort unterzubringen. Langsam kommen sie sich während ihrer Reise näher. Colette führt den Jungen behutsam bei seinen ersten Gehversuchen in der Wirklichkeit und bekommt dafür das Zutrauen und die Wärme eines gesellschaftlich nicht vorbelasteten Menschen. Schließlich traut sie sich, ihrem Traum zu folgen und sucht ihre Jugendliebe auf, in der Hoffnung, dass dieser auf sie gewartet hat.
Es ist eine sehr märchenhafte Bildsprache, die Serge Frydman verwendet; selbst die rot beleuchteten Schaufenster der Prostituierten wirken romantisch-verklärt. So sieht man die Frauen auch niemals in Aktion, damit der kindliche Blick auf das Gewerbe erhalten bleiben kann. Der Junge steht dabei für einen Neuanfang, einen Menschen ohne Vorurteile und gesellschaftliche Prägungen, mit dem alles möglich ist. Ein Wink mit dem Zaunpfahl ist dabei die Szene, in der er ohne weiteres den Karton mit dem Geld gegen bunte Turnschuhe eintauschen würde- es gibt mehrere solche Momente, in denen man dem Regisseur gerne zurufen würde, dass man's auch so kapiert hat...
Ein Glücksgriff bei der Besetzung ist Vincent Rottiers, der nicht nur unheimlich ausdrucksstark ist, sondern sowohl die sprachlose Hilflosigkeit des Jungen als auch den enorm erwachsenen Ernst des jungen Mannes eindrucksvoll verkörpert.
So gut wie gar nicht angesprochen werden die Schattenseiten des Milieus- gut, es gibt den Zuhälter, der über Leichen geht. Aber welche sozialen Folgen zum Beispiel der langjährige Heimaufenthalt des Jungen bzw. sein Verhältnis zur faktisch nie vorhandenen Mutter hat, wird ganz unter den Tisch gekehrt. Auch die Attacke gegen den Mörder seiner Mutter kann man nicht wirklich als latente Aggression verstehen. Gut, es ist ein Märchen- aber die Grenzen dieses Konzepts sind zumindest sichtbar.
Gesehen von Johannes Prokop