La grande Illusion
Wann immer wir Filme auf Leinwand oder von einem Bildschirm sehen, werden wir allzu bereitwillig das Opfer diverser Illusionen. Jedwede Bewegung, die wir zu sehen glauben, erzeugt unser Gehirn aus einer mehr oder weniger großen Anzahl einzelner statischer Bilder. Jeder Film, den wir im Kino sehen, besteht aus 24 Einzelbildern in der Sekunde, jeder Fernseher zeigt uns, je nach System 25 oder 30 ganze (bzw. 50 oder 60 halbe) Bilder. Dass unsere Wahrnehmung aus diesen Bilderfolgen kontinuierliche Bewegungen macht, liegt an zwei wesentlichen Phänomenen. Der englische Arzt und Forscher Peter Mark Roget entdeckte und benannte bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Phänomen der Trägheit unserer Retina, die so genannte Nachbildwirkung. Sie besagt, dass auch wenn wir die Augen schließen, noch für einen Moment lang das vorher gesehene in unserer Wahrnehmung nachwirkt. Sie war und ist die Basis aller technischen Simulationen von Bewegung (auf nebenstehendem Bildbeispiel sehen Sie auf den Schwarzphasen jeweils noch das vorherige Bild der Person nachwirken).
Das zweite für die Simulation von Bewegung wichtige Phänomen ist der stroboskopische Effekt, den der Psychologe Max Wertheimer in seinem Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichten Aufsatz über Schein- und Realbewegung benannte. In seiner Theorie der Gestaltpsychologie erkannte er, dass die einzelnen Filmbilder und das, was wir als Bewegungsillusion sehen, zwei unterschiedliche Dinge sind. Einzelbilder verschmelzen zu einem Bewegungseindruck. Gemeinsam erlauben diese beiden Phänomene unserem Gehirn, die Abfolge von Standbildern als fortlaufende Bewegung wahrzunehmen. Film und Fernsehen sind durch sie überhaupt nur möglich.
Räumlichkeiten
Ein weiterer Betrug, über den wir gerne hinwegsehen, ist die fehlende Dreidimensionalität. Unsere Wirklichkeit, wie wir sie sehen und die durch die nebeneinander liegenden Augen räumlich wahrgenommen wird, bilden Film und Fernsehen, wenn wir nicht gerade in 3D drehen, nur zweidimensional ab. Auch wenn die Industrie versucht hat, zeitweise einen 3D-Hype aufzubauen, wird wohl die überwältigende Mehrzahl an Filmen bis auf Weiteres zweidimensional sein. Es ist unsere Seherfahrung der Wirklichkeit, welche uns hilft, beim Anschauen eines Filmes die fehlende Räumlichkeit zu einer Illusion an Bildtiefe werden zu lassen. Die Staffelung von Objekten in Vorder-, Mittel- und Hintergrund ist eine der Methoden, bei denen wir die fehlende Tiefe quasi hinzurechnen. Speziell ein großer Schärfentiefebereich unterstützt diese Illusion von räumlicher Tiefe. Orson Welles arbeitete in seinem Epos "Citizen Kane" intensiv damit und kreierte einen eigenen Filmstil.
Kuleshov-Effekt
Eine weitere Ebene der Illusion entsteht durch unsere eigene Kombinatorik von Sinnzusammenhängen. So wie unser Gehirn Einzelbilder zu Laufbildern zusammensetzt, so setzt es benachbarte Einstellungen zu kompletten Inhalten zusammen. Jeder ordentliche Cutter weiß um dieses Phänomen, welches Anfang der 20er Jahre von Lev Kuleshov entdeckt wurde. Nach Kuleshov ist das Gehirn bemüht, benachbarte Einstellungen zu Zusammenhängen zusammenzufügen, selbst wenn diese nicht zusammen gehören. Anfang der 20er Jahre machte er eine Reihe von Schnitt- Experimenten, die auch als "Mozhukhin-Experiment" bekannt wurden. Kuleshov kombinierte eine Aufnahme eines bekannten Schauspielers, Ivan Mozhukhin, mit verschiedenen kurzen Einstellungen unterschiedlichen Inhalts. Unter diesen etwa einen Teller Suppe, ein lachendes Kind und einen Toten.
Je nachdem, mit welcher Einstellung die stets identische Einstellung von Mozhukhins Gesicht kombiniert wurde, interpretierte das Testpublikum unterschiedliche Gemütszustände. Sie waren sich sicher, dass der Gesichtsausdruck des Darstellers sich geändert habe. Hunger, Freude oder Trauer wurden der immer gleichen Aufnahme des Darstellers zugeschrieben, abhängig von den Zwischenschnitten. Aus diesen und anderen Experimenten entwickelte Kuleshov seine Montagetheorie. Längst sind die Zuschauer diesem Effekt nicht mehr gänzlich ausgeliefert, beinahe hundert Jahre Seherfahrung haben unsere Wahrnehmung differenzierter ausgeprägt. Doch das Grundprinzip des Kuleshov-Effekts hat auch heute noch Bestand.
Rezeption
Selbstverständlich spielt auch der Ort, und die Art und Weise unserer Filmbetrachtung eine große Rolle für den Grad an Illusion. Ein kleiner Fernsehbildschirm, um den herum wir die Wohnungseinrichtung sehen, wird viel weniger Räumlichkeitseindruck erzeugen als eine Leinwand in einem dunklen Kinosaal. Je perfekter die Aufführung, desto leichter identifiziert sich der Zuschauer mit der Kameraperspektive. Die stetige Verbesserung der technischen Abbildungsverfahren, speziell beim Film, aber auch beim Fernsehen (HDTV, 4K), verstärkt auch stetig die Perfektion der Illusion. Spezielle Verfahren wie 3D, Cinemax, Surround etc. und vor allem natürlich Virtual Reality haben zusätzliche Intensivierungen dieses Realitätseindrucks zur Folge.
Kein Zufall
Ohne unsere unbewusste Bereitschaft, uns täuschen zu lassen, wären Film und Fernsehen überhaupt nicht denkbar. Die Art und Weise wie unser Gehirn arbeitet, unser biologisches Erbe letztlich und das technische Verfahren des Films machen die Illusion erzählter bewegter Geschichten erst möglich.