Extremsituationen können von einem Augenblick auf den anderen das Leben vieler Personen verändern. Es sind absolute Erfahrungen, die Menschen aneinander binden meist für ein Leben lang. Vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb sich der Film so gern dieser Thematik annimmt. Der Franzose Cédric Kahn hat jedenfalls bei seinem aktuellen Projekt "Schlusslichter" auf einen Roman von Georges Simenon aus dem Jahre 1953 zurückgegriffen. Es ist ein Triller, der die Ehe eines krisengeschüttelten Paares auf die Probe stellt.
Da ist zunächst Antoine. Ein Versicherungsvertreter, der jeden Tag den gleichen tristen Alltag durchlaufen muss und nichts mehr Außergewöhnliches vom Leben zu erwarten hat. Beinahe schleichend hat er sich somit zur Gewohnheit gemacht, Whiskey zu trinken, am besten einen doppelten. Es ist keine Alkoholsucht, aber ein Ritual als Belohung für den überstandenen Tag. Dessen Frau Hèléne ist dagegen Rechtsanwältin, erlebt jeden Tag Neues, geht auf Reisen und verdient mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr Geld als Ihr Mann. Das schlägt natürlich auf das Ego von Antoine. Er fühlt sich unwohl, ist schnell gereizt, so dass die Ehe zwischen beiden Protagonisten kein Füreinander mehr bereit hält. Gegen Ende der Sommerferien fährt das Ehepaar mit dem Auto in den Südosten Frankreichs, um seine Kinder aus dem Ferienlager abzuholen. Entlang des Wegs macht Antoine immer wieder Halt, um sich in den Kneipen zu betrinken. Hèléne wird dies alles zu viel. Sie setzt sich ab, um mit dem Zug die Reise fortzusetzen. Antoine, der das Verschwinden seiner Frau nach langer Suche nicht fassen kann, beschließt, sich in einer Bahnhofskneipe zu betrinken. Kahn illustriert vor allem in diesen Szenen die primären Probleme der Ehe. Erst wenn Antoine allein ist, kann er sich entfalten und befreien von der Last seines selbstauferlegten Korsetts. Leider spricht er in diesem angetrunkenen Elan einen entflohenen Gefängnisinsassen an und nimmt diesen auch noch in seinem Wagen mit. Was nun folgt, ist die ironischste und zugleich stärkste Sequenz in Kahns Film "Schlusslichter." Statt ein eindeutiges Bild zwischen Opfer und Täter zu zeichnen, verwischt der Regisseur tragisch-komisch die Grenzen. Man muss sich beinahe mehr Sorgen um den Flüchtling machen, an Anbetracht dessen, wie Antoine im betrunkenen Zustand fährt. Als dann auch noch ein Reifen platzt und der Häftling die ganze Arbeit erledigen muss, ist die Groteske auf den Kopf gestellt. Antoine beweist dennoch irgendwann Scharfsinn, er weiß, dass er einen Schwerverbrecher im Wagen hat und kann diesen sogar in einem Waldstück überwältigen.
Erst am nächsten Morgen kann er wieder klar denken. Sein Wagen steht am Straßenrand, vom Flüchtling ist nichts zu sehen und auch die Umgebung ist ihm komplett unbekannt. Als er sich schließlich per Telefon auf die Suche nach seiner Frau macht, erfährt er, dass eben dieser Häftling, den Antoine so bereitwillig aufgenommen hat, kurz zuvor Hèléne überfallen und schwer verletzt hat. Völlig unabhängig voneinander hat der Kriminelle die Wege beider Ehepartner gekreuzt und die Geschichte für beide Beteiligte in einem Alptraum enden lassen. Dieser Alptraum kann jedoch auch der Neuanfang einer Ehe sein, so die intendierte Hoffnung des Regisseurs. Wann, wenn nicht in dieser Situation, haben beide Ehepartner durch die Willenkraft, füreinander zu kämpfen, Ihre gegenseitige Liebe bewiesen. Cédric Kahn hat "Schlusslichter" mit großem psychologischen Interesse, viel Charme, tragik-komischer Ironie und Liebe in Szene gesetzt. Es ist ein ungewöhnlicher Krimi entstanden, an den man eine Weile gern zurück denkt. Er wird es aber im Wettbewerbsprogramm der Berlinale in diesem Jahr nicht leicht haben, sich zu behaupten.
Gesehen von Bogdan Büchner am 10.02.2004