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Ganz gleich ob man sich den 2024 er Cannes-Gewinner "Anora" oder den November Tatort "Siebte Etage" aus Köln anschaut, das Milieu und die Thematik der Sexarbeit werden immer wieder im Film neu erzählt.

Die Darstellung von Prostitution im Film kann zutiefst realistisch aber auch unfassbar klischiert sein. Wo sind die Grenzlinien? Es kommt immer wieder vor im Kino und im Fernsehen, dass Prostitution thematisiert wird und man kann sagen, dass das Kino im Verlauf der Filmgeschichte sich schon sehr früh damit auseinandergesetzt hat.

Natürlich wurde die Prostitution entsprechend der gängigen gesellschaftlichen Vorgaben zumeist symbolisch oder indirekt dargestellt. Bereits damals wurden Prostituierte mehrheitlich als tragische Figuren erzählt, die unter diesen widrigen Lebensbedingungen litten und manchmal im Film auch gerettet wurden. Man sprach von den "gefallenen Mädchen oder Frauen" und die Filme hatten zumeist auch den pädagogischen Anspruch, eindrücklich vor diesem Schicksal zu warnen. Man denke nur an Filme wie Federico Fellinis "Die Nächte der Caberia".

Das hat bis heute Tradition, doch die Filmemacher gehen mit dem Thema höchst unterschiedlich um. Die erzählerischen Ansätze reichen von höchst verklärenden schillernd bunten Klischeefilmen bis hin zu dem dokumentarischen "Whores' Glory" vom Österreichischen Regisseur Michael Glawogger aus dem Jahr 2011, der unkommentiert den Alltag von Prostituierten in Thailand, Bangladesch und Mexiko aufzeigt.

 

"Anora"

Anora 5000

Mikey Madison und Mark Eydelshteyn in "Anora" © 2024 Anora Productions, LLC / UIP

 

Regisseur Sean Baker erzählt vom aufregenden Leben einer stolzen Prostituierten und zugleich von der Brüchigkeit dieser scheinbaren Freiheit. Die Geschichte von der Tänzerin aus Brighton Beach, welche von Mikey Madison gespielt wird, soll angeblich von Federico Fellinis "Die Nächte der Cabiria" inspiriert sein.

In beiden Filmen geht es um Hoffnung, um Wunscherfüllung, eine romantische Fantasie und einem seltsamen Machtgefälle zwischen Klassen und Geschlechtern. In "Anora" tanzt die junge Ani im Hinterzimmer eines Herrenclubs und man erfährt, dass sie gegen Zahlung einer angemessenen Gebühr alle Träume eines Kunden wahr werden lässt. Als sie diese einem jungen, russischen Oligarchensohn namens Ivan (Mark Eydelshteyn) zukommen lässt und dieser immer wieder ihre Dienste anfordert, macht Ani sich Hoffnungen, einen reichen Geldgeber an der Angel zu haben und mit seiner Hilfe ihrem miserablen Arbeitsumfeld entkommen zu können.

Als die beiden, nicht zuletzt um Ivan eine Aufenthaltserlaubnis in den USA zu verschaffen, heiraten wird für Ani ein Cinderella-Märchen wahr in dem sie eine Prinzessin ist, die ihren Glasschuh bekommen hat. Doch der Traum wandelt sich rasch, kaum hat die Oligarchen Familie von der Ehe erfahren, schickt sie ihre Handlanger, um die Ehe annulieren zu lassen. Ein Happy End verweigert uns der Film, das ist ein gutes Gegenmittel gegen gängige Erzählklischees. Damit unterscheidet er sich auch entscheidend von beispielsweise "Pretty Woman". Und am Ende des Films ahnt man, wohin Ani Liebe sie eigentlich führt. Eine leise und überraschende Hoffnung...

Sean Baker hat sich nicht zum ersten Mal mit dem Thema Sexarbeiter*Innen beschäftigt. Es taucht bereits 2012 in seinem Film "Starlet", auf und hat sich auch 2021 in "Red Rocket" fortgesetzt.

 

Tatort "Siebte Etage"

Tatort Siebte Etage 4000

Kommissar Freddy Schenk (Dietmar Bär) und die Prostituierte Jasmin Backes (Antonia Bill) ARD/WDR TATORT – SIEBTE ETAGE, Regie: Hüseyin Tabak, Buch: Eva und Volker A. Zahn, Foto: Martin Valentin Menke / WDR

 

Der Kölner Tatort "Siebte Etage" (Regie: Hüseyin Tabak) wird weitgehend in einem Gebäude erzählt, in welchem über 100 Zimmer an Prostituierte vermietet werden. Wie die Presseinformation erläutert, übrigens ein echtes Bordell, in welchem während der Dreharbeiten in den übrigen Etagen der normale Betrieb weiterlief.

Der Hausmeister stürzt aus dem Fenster in die Tiefe und die beiden Ermittler, die Kommissare Max Ballauf und Freddy Schenk, beginnen mit ihrer Arbeit. Dabei sind die Figuren sehr glaubwürdig angelegt, man vermutet da eine hohe Authentizität, weil man den Schmerz, die Schicksale, all die traurigen Geschichten hinter den Protagonistinnen zu spüren glaubt. Und auch die Kamera liefert diese Eindrücke in nahezu kinohafter Kraft, anfänglich eine überzeugende Arbeit.

Aber nur anfänglich. Denn dann plötzlich durchbrechen drei der Protagonistinnen die sogenannte "vierte Wand" drehen sich um und sprechen direkt zu den Zuschauern um das schicksalhafte ihrer Situation noch einmal explizit in zwanghaft poetisch wirkenden Sätzen und mit traurigem Musikscore im Hintergrund zu verbalisieren. Es ist kaum zu fassen und man fragt sich ob das irgendwelchen pädagoigisch aufklärerischen Redaktionsvorgaben geschuldet ist, all das, was die lineare Filmstory ohnehin hervorragend transportiert, noch einmal mit dem Zeigefinger über die Flatscreens zu pressen. Die gute Absicht das Elend der Prostituierten zu thematisieren, ertrinkt in Unglaubwürdigkeit.

Wie schade, alles, was der Kölner Tatort da vorneherum überzeugend aufgebaut hat, schmeißt er hinten wieder um und zerstört es. Als habe man der Qualität der eigentlichen Story nicht vertraut und noch ein paar Infoclips zum Thema lose in die Handlung eingestreut. Gab es denn da Niemand, weder beim Drehbuch, noch bei Produktion, Regie oder Redaktion, der da hätte eingreifen und diesen dramaturgischen Fehlgriff hätte verhindern können?

 

Wahrhaftigkeit

Grundsätzlich tauchen im Kino und Fernsehen regelmäßig Klischees über die Prostitution auf, welche je nach gesellschaftlicher Situation und Kulturkreis variieren. Die stereotypen Darstellungen und vereinfachten Vorstellungen, gehen an den vermutlich deutlich komplexeren Zusammenhängen von Sexarbeit und den Menschen, die sie ausüben, häufig vorbei.

Zu den häufigsten Klischees gehören:

  • Die Darstellung der Prostituierten als "gefallene Frau" - Tragische Figuren, die durch Armut, Drogen oder Missbrauch in die Prostitution hineingeraten sind.
  • Die romantische Verklärung der Prostitution gibt den Protagonistinnen häufig in ein glamouröses Lebensumfeld, sie tragen teuren Schmuck und luxoriöse Kleider. Filme wie "Pretty Woman" (1990) oder "Moulin Rouge!" (2001) bedienen dieses Bild. 
  • Ein weiteres, besonders im amerikanischen "Film Noir" wiederentdecktes Klische ist die geheimnisumwitterte Femme Fatale, die unwiederstehliche und zugleich gefährliche Frau, welche Männer manipuliert und in den Abgrund zieht. 
  • Klischee Nummer vier ist die unschuldige, gutherzige Prostituierte. Diese Filmfigur wird so erzählt, dass sie trotz ihrer Tätigkeit als moralisch "rein" und unschuldig dargestellt wird. Solche Erzählungen sind häufig romantisierend und zielen auf ein Happy End bei dem die Prostituierten am Ende aus dem Milieu gerettet werden. Fellinis "Die Nächte der Caberia" ist so ein Beispiel.
  • Ein weiteres gängis Klischee ist die mütterliche Prostituierte welche jüngere oder unerfahrene Frauen beschützt und anleitet.
  • Ein weiteres Klischee betrifft die exotische Prostituierte. Sexarbeiterinnen werden als exotische und fremde Frauen präsentiert, was möglicherweise rassistische und koloniale Stereotype bedient
  • Immer wieder anzutreffen ist auch die kriminelle Prostituierte, die irgendwie mit Drogen, Gewalt, Erpressung und Diebstahl zu tun hat und die grundsätzlich unzuverlässig ist.

 

Filme

  • "The Girl Who Went Astray" (Regie: N.N. 1909, USA)
  • "L'Assommoir" (Regie: Albert Capellani, F 1909) Literaturverfilmung nach Emile Zola
  • "The Cry of the Children" (Regie: George Nichols, 1912, USA) Über die Verzweiflung armer Familien
  • "A Fool There Was" (Regie: Frank Powell, 1915, USA) Ein sehr früher Vamp-Film über eine Frau, die Männer verführt und ihre Leben ruiniert.
  • "Die Straße" (Regie: Karl Grune, 1923, Deutschland) Das Nachtleben in der Großstadt mit Prostitution und Kriminalität
  • "Nana" (Regie: Jean Renoir, 1926, Frankreich/Deutschland) Die Literaturverfilmung von Émile Zolas Roman, über eine Prostituierte, welche Männer aus besseren Kreisen manipuliert
  • "Die Sünderin" (Regie: Willi Forst, 1951, Deutschland)
  • "Nights of Cabiria (Regie: Federico Fellini It.1957)
  • "Irma la Douce" (Regie: Billy Wilder, USA 1963)
  • "Taxi Driver" (Regie: Martin Scorsese, USA 1976)
  • "The Other Side of Midnight" (Regie: Charles Jarrott, USA 1977)
  • "Lili Marleen" (Regie: Rainer Werner Fassbinder, D 1981)
  • "Pretty Woman" (Regie: Garry Marshall, USA 1990)
  • "The Lover", (Regie: Jean-Jacques Annaud, F 1992)
  • "Requiem for a Dream" (Regie: Darren Aronofsky, USA 2000)
  • "Memoirs of a Geisha" (Regie: Rob Marshall, USA 2005)
  • "Taken" (Regie: Pierre Morel, USA 2008)"
  • "Whores' Glory" (Regie: Michael Glawogger, Ö 2011)
  • "Eden" (Regie: Megan Griffiths, USA 2012)
  • "Les Misérables" (Regie: Ladj Ly, USA 2019)
  • Tatort "Siebte Etage" (Regie: Hüseyin Tabak, D 2024)

 

Was bei dieser gewiss unvollständigen Liste deutlich auffällt ist beinahe ein weiteres Klischee, nämlich der Umstand, dass von all diesen Filmen lediglich einer, "Eden" aus dem Jahr 2012 von einer Frau (Megan Griffiths) inszeniert wurde.

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