
Was können sie und was können sie nicht? Rückblenden als Bruchstellen der filmischen Illusion. Unzählige Filme verwenden sie, die Rückblende, um die Vergangenheit leichter erzählen zu können. Die Filmsemiotik kennt sie von den frühesten Kinofilmen an. In Filmanalysen werden sie häufig genauer betrachtet und in en filmischen Erzählkontext eingeordnet. Doch sie haben einen entscheidenden Schwachpunkt,- sie unterbrechen nämlich die Illusion der Zuschauer, an einem Erzählfluss teilzuhaben, der kontinuierlich weiterläuft. Sie sind so etwas wie ein Warnhinweis: "Achtung Du befindest dich in einem Film!" In den meisten Fällen ermöglicht das Erzählen ohne Rückblende mehr Klarheit, emotionale Unmittelbarkeit und kontinuierliche Spannung.
Für Zuschauer ist es nicht erstrebenswert, ständig zwischen Zeitebenen umzuschalten. Insbesondere bei komplexen Stoffen können sie einer klaren zeitliche Ordnung leichter folgen, außerdem bekommt der Film eine Form, die "wie aus einem Guss" wirkt. In einem linear erzählten Film bleiben wir von der Struktur her stets im Moment des Geschehens – wir fühlen mit, was die Filmfigur gerade erlebt. Rückblenden reißen Zuschauer oft aus dem aktuellen Geschehen heraus, brechen mit der filmischen Zeitebene, insbesondere, wenn sie nicht unmittelbar und zwingend motiviert sind.
Vergangenes
Rückblenden sind die einfachste Lösung, Informationen aus der Vergangenheit in eine Geschichte mit einzubeziehen. Doch oft sind sie einfach nur ein schwaches Hilfsmittel, weil man es als Autor*in nicht gebacken bekommt, Vergangenes auf andere Weise in die Filmhandlung einzubringen.
Viele Autoren versuchen, während des Schreibprozesses, ohne Rückblenden auszukommen. Das ist umso schwerer, je mehr Gewicht die Vorgeschichte in der Gegenwart hat. Wie kommuniziert man wichtige Geschehnisse oder gar ein halbes Leben, belastende Ereignisse der Vergangenheit in das filmische Jetzt? In einem linearen Film können wir wichtige Informationen Stück für Stück preisgeben – über Dialog, Verhalten, Andeutungen. Das erhöht die Spannung für die Zuschauer, welche diese Informationen wie ein Puzzle zusammensetzen müssen.
Die Haltung, Rückblenden zu vermeiden, erfordert eine gewisse formale Disziplin,- letztlich macht das die Drehbücher kreativer. Wenn man eine lineare Erzählstruktur möchte, muss man anders mit der Informationsvermittlung umgehen: über Details, Verhalten, Subtext. Das Ergebnis ist ein dichteres, intelligenteres Storytelling.
Wenn man hingegen über einen Rückblick (Flashback) in die Vergangenheit „springt“, verschenkt man möglicherweise Spannung, weil man Dinge zu früh auflöst. Man sollte nur so viel Vergangenheit wie unbedingt nötig durchschimmern lassen – und möglichst dosiert verteilt und nicht auf einmal.
Erzählprinzip
Grundsätzlich ist es wichtig, zu versuchen ohne Rückblenden die Vergangenheit mit einzubeziehen. Menschen sind nun einmal die Summe ihrer Erfahrungen und Erlebnisse. Manchmal gibt es so etwas wie Zwischenformen, keine Rückblenden sondern so etwas wie haluzierte, geträumte Elemente, so etwas wie ein fragmentarisches Gedächtnis.
Häufig wirken Rückblenden allzusehr wie Erklärfernsehen, sie dienen dem Publikum als „Nachhilfe“. Schaut her, wir zeigen Euch jetzt, wie es zu dieser Situation gekommen ist. Das ist das Gegenteil von Drama und wirkt irgendwie redundant. Besser ist es, die Vergangenheit in Andeutungen oder Reaktionen der Protagonisten mitzuerzählen. Die Amerikaner bringen es sehr gut auf den Punkt wenn sie fordern: „Don’t tell it – let it haunt the present.“
Manche Filme werden stärker, wenn sie all das ablehnen, was sich nach Erklären anfühlt. Erklärszenen können den Geist der Stille, das Geheimnis und vielleicht auch den spirituelleren Kern eines Filmes verraten. Im besten Fall fühlt sich der Zuschauer ein wenig wie ein Detektiv, der Bruchstücke zusammensetzen muss. Dadurch wird er emotional eingebunden, weil er zwischen den Zeilen lesen muss. Die Vergangenheit arbeitet auf diese Weise durch das Hier und Jetzt, das ist viel stärker als eine erklärende Rückschau.

Rückblenden sind unsinnig wenn...
sie nur irgendwelche Informationen nachliefern
sie bloß neutral etwas erklären, was auch anders erzählbar wäre
sie den eigentlichen Erzählfluss und die Spannung der Geschichte bremsen
sie nicht klar und zwingend motiviert sind
Ausnahmen sind erlaubt wenn...
sie etwas emotional Unerzählbares zeigen
sie stark subjektiv geprägt sind (z. B. eine private Erinnerung, eine tiefes Trauma)
sie eine Erzählhaltung unterstützen, welche den Zuschauer in die Irre führen oder überraschen will
sie die Wahrnehmung des Zuschauers bewusst brechen oder verändern
sie den Erzählrahmen bewusst verschieben oder in Frage stellen
sie in einem Film eine grundlegende formale Funktion haben (z. B. "Memento", "The Father")
Filmliste
An dieser Stelle alle Filme zu nennen, in denen Rückblenden eigentlich Fehl am Platze waren, würde den Rahmen sprengen,- es sind einfach viel zu viele. Zu den Ausnahmefilmen in denen Rückblenden hingegen tatsächlich erzählerisch bedeutsam und zwingend waren, gehören...
- Citizen Kane (1941, Orson Welles)
- Rashōmon – Das Lustwäldchen (Regie: Akira Kursosawa 1950)
- Once Upon a Time in America (1984)
- Forrest Gump (1994)
- Die üblichen Verdächtigen (The Usual Suspects, 1995)
- Memento (2000, Christopher Nolan)
- Irreversibel (Regie: Gaspar Noé, F 2002)
- Inception (2010)
- Amour (2012, Michael Haneke)
- The Father (2020, Florian Zeller)


